Rene´ Steininger

Eine weitere geglückte ´Partitur´

Zu René Steiningers neuem Lyrik-und Erzählband („tremolando“, 2010)

Von Dagmar Kostalova

René Steiningers zweiter Textband ist noch einmal ein filigranes Stück poetischer Weltbetrachtung. Der „Gewinn, irgendwo anders zu sein“, den er von Regina Ullmann als Motto übernommen und seiner Arbeit voranstellt hat, zeichnet in erster Linie ihn selbst als einen im schönsten Sinne besessenen Wanderer aus, der auf seinen Reisen zum untrüglichen Zeitdiagnostiker wird. Der wörtlich „unterwegs“ zur Welt Gekommene (geboren 1970 in einem Pariser Taxi) bleibt seinem Ort ´dazwischen´ auch in seinen Gedichten stets produktiv verhaftet. Mit fotographischem Blick und viel Talent für intensive Situativität durchläuft er darin in sparsamst hingeworfenen Zeilen die kleinen und doch gedanklich großen Odysseen von heute. Von Marrakesch über Wien nach Lettland geht der poetische Wanderweg, von Serbien über Slowakei nach Mexico und New York.

teininger ist kein explizit politischer Autor, eher einer, der das unterschwellige Engagement seiner Bilder und Assoziationen aus den meisterhaft poetisch zugespitzten, bissig melancholischen Reflexionen über zivilisatorische Verfehlungen, historische und Kulturbrüche, über menschliches Leid oder die bedrohten Heilkräfte der Natur implizit hervorklingen lässt. Eingehüllt dies alles in eine wohltuend asketische Sprache, einfallsreiche Pointen und verzaubernde Magie des jeweiligen Augenblicks. Man fühlt sich beinahe genötigt zu behaupten, ´so viel sagend´ durch die Welt zu reisen mit so wenig Worten im Gepäck, ist heutzutage allein gerechtfertigt angesichts der zunehmenden ökologischen Misere.

Während man sich als Leser und Kritiker seit Jahrzehnten mit der Frage plagt, wohin der Sinn von all den geschwätzigen Büchern versickert ist, die jeden Tag neu dazu kommen, wirkt die Lektüre von Texten, wie in diesem Fall, geradezu beglückend. Von Christa Wolf stammen die Worte: „Wie schwer... würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen.“ Es würde nicht nur, gehörte hier hinzugefügt, es wird für uns tatsächlich zunehmend schwer, von der Erde (auch von Literatur), wie sie vor zwanzig, dreißig Jahren noch war, Abschied zu nehmen. Dieser Tendenz entgegengesetzt schafft es Steininger – apodiktischer in seinen Gedichten als in der thematisch vielfältigen, nicht weniger kritischen und auch sprachlich erfinderischen Prosa - , uns die im Menschengedenken aufgehobene Erdenwelt, wie sie einst war, ist und auch zu entarten droht, in einem kunstvoll gewobenen Sprachnetz synchroner und diachroner Blickwinkel vor Augen zu führen. Mit einer gedanklichen und poetischen Anmut, die ästhetischen Anspruch und ethischen Ernst gekonnt zusammenzuführen vermag.

Plötzlich stärker werdend
von Robert Schwarz

Der Autor, René Steininger, tritt mit diesem Erstlingswerk ans Licht gleichsam als vitalistischer Hungerkünstler. Schon der erste Eindruck dieses vom kleinen Vorarlberger Bucher Verlages schön edierten Bandes weist in diese Richtung: schlanke Wortketten wie zum Trocknen aufgehängt, deren Stabilität zunächst ganz fragwürdig scheint. Nach einer Lesung flüstert eine ältere Dame dem jungen Autor ins Ohr: „Sie sind aber kein Mann großer Worte!“ Ein Kompliment, ist sich der Leser, der durch die Seiten eilt, stockt, lacht, zurückblättert, vergleicht und wieder weiter springt, bald sicher. Der zärtliche Ton der Gedichte, die irgendwie leise daher kommen, aber auch kühn wirken, ist mit diesem der Musik entlehnten Terminus technicus sehr treffend benannt: rinforzando – plötzlich stärker werdend.

Durch die sehr konzentrierten lyrischen Notate zeichnet sich ein Leben der Unruhe, der vielfachen Aufbrüche und vorübergehenden Stationen ab: Reiseorte, vornehmlich in Osteuropa und Übersee, Stimmungen und Reflexionen, Bilder, die sich ins Gehirn gebrannt haben und dann in der Dunkelkammer der Sprache nachbearbeitet wurden, und immer wieder Frauen, Verkörperungen vagabundierender Sinnlichkeit. Auch die Eine ist darunter, die das unhaltbare Glück schenkt: „Jedes Stück Erde/ auf dem du neben mir/ stehst/ umstellt mich/ Mein Glück/ in dem du neben mir/ gestanden hast/ lässt mich laufen/ wenn du gehst“.

Den größten Teil des Buches nimmt die Lyrik ein, die in die Abschnitte „Carnet de routes“ 1 und 2, „Gedichte von der Liebe“ 1 und 2 und „Verwehtes“ unterteilt ist. Dann folgt eine lose Sammlung kurzer Texte, „Kasualien und Kalamitäten“, bei denen es sich um kurze Portraits handelt, existentielle Verdichtungen, die einzelne Leben verschiedener Milieus herausgreifen, deren Isolation greifbar machen und den Leser für einen Moment an deren je eigener Unhaltbarkeit teilhaben lassen. Die Schreibmotive erscheinen in dieser Kurzprosa sozial verdichtet. Die Entscheidung des Autors oder des Verlages, die Lyrik voranzustellen, dürfte wohl den Vorrang ausdrücken, den Steininger – ein zweiter Band, der im Herbst ebenfalls bei Bucher erscheint, wird Dialogerzählungen und Aphorismen enthalten - dem Leichten, Luftigen und Ephemeren gibt.

In kurzen Augenblicken ereignet sich das Wesentliche. Nachts im Zug die Vision einer zweiten Monade: „blasses/ Aufleuchten/ im schwarzen/ Fensterglas“. In Bukarest folgt der Blick einer Gruppe schmutziger Kinder, die im Winter auf die Straße stürmen und sich zwischen die wartenden Autos drängeln; bleibt hängen an ihren vorgestreckten Händen, die sich an den Auspuffgasen wärmen. Eine Eidechse läuft in Anamur der „versteinerten Erde/ wie Gänsehaut/ über den Rücken“. Spitze Absätze durchpflügen den warmen Asphalt, auf dem sich gestelzte Gebäude kaum halten. Nicht immer ist die wesentliche Nuance visionär, oft wird sie durch ein Wort erzeugt, eine lancierte Provokation, dann wieder liegt sie im Aufblitzen eines Gedankens oder einer unergründlichen Schönheit. Wenn die kurzen Texte andererseits so etwas wie ein durchlaufendes Rückgrat haben, dann ist es die Haltung des Autors, die von weit her zu kommen und uralt zu sein scheint.

Die Texte sind sprachlich geschliffen, sie gehen vollständig auf in der Erzählung oder Beschwörung, wie zufällig lancierte sprachliche Doppeldeutigkeiten tragen dabei oft die Pointe, indem sie eine von Anfang an angepeilte Wendung plötzlich umsetzen. Etwa so, wie ein Kampfsportler, der auf seine Gelegenheit zum „Lucky Punch“ wartet. Bei hoher Sprachbewusstheit ist die Sprache dieser Texte dem Denken untergeordnet. Dieses lässt am Ende nur eine einzige Metapher gelten, und das ist die Metapher der Existenz. Sie ist die Metapher schlechthin, denn die menschliche Existenz verweist immer wieder auf nichts als auf sich selbst. Das Erschrecken über die Bodenlosigkeit drückt sich in einem schmerzhaften Bewusstsein der Vergänglichkeit aus: „Wenn ich/ plötzlich nächstes Mal/ mein Gesicht/ im Spiegel/ seh/ bin ich grau“. Auf der anderen Seite verjüngt die jäh ergriffene Nachbarschaft zum Leben: „Es bin ich“, denkt sich die Schwangere vorm Monitor, „Es ist/ der Herzschlag/ eines Fötus/ im Körper/ eines Fossils“.

Jegliche Interpunktion fehlt, sie ist „nach innen ausgewandert“. Dies ist nur konsequent, denn fast jeder der Texte läuft auf eine Pointe zu, um die das Ganze der Beobachtung organisiert ist. Aber die fehlende Interpunktion hat eine noch zwingendere Ursache: sie ist unnötig. Das Unnötige ist der innerste Gegenstand dieses schmalen Werkes. Das Unnötige und seine Verkörperungen, jene „Legionen ungeschlagener Verlierer“, bevölkern seinen Raum, wie der alte Kauz im up- zu sizenden Quartier, die Hure, die den „Mann von Welt“ nie getroffen hat, der Säufer, dem es gelingt, sich hinter einem einzigen Glas Bier zu verstecken, wie die verlorenen Geliebten, die ungeborenen Kinder, die letzten Stehkaffees - sie alle werden hier gewürdigt im Luxus der Reduktion.

Vielleicht kommt man der Haltung dieser Texte auf die Spur, wenn man Steininger als Artisten der Flucht bezeichnet. „In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen“ hieß es in Kafkas berühmter Erzählung. „Während es sich früher gut lohnte, große derartige Vorführungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich Es waren andere Zeiten.“ (F. K.)

Die subjektive Ausgangslage eines solchen Schreibens ist simpel: Die Welt, in der wir leben, „(ist) nicht mehr zu retten“. Ohne diesseitige Hoffnung verliert der Kompromiss seinen kompromittierenden Reiz. Dann schaffen Flucht vor der Welt und Entscheidung, ihr den Rücken kehren, erst Platz für einen Kosmos des Unnötigen, das ja die Lyrik seit jeher auch verkörpert. Im Unterschied zur Kunstfigur des großen Pragers, deren Artistik im Verschwinden mündet und deren Platz zur großen Erleichterung des Publikums durch einen jungen Panther eingenommen wird, sucht dieser Autor aber die Flucht in der Bewegung. In „Lucky Punch“ schlägt sie dem Horchenden von innen entgegen: „Der erste/ Schlag/ des neuen/ Lebens/ gegen/ ihren Bauch/ traf/ von innen/ ihn direkt/ ins Gesicht“. Dieses Subjekt wird sich nicht in einen Käfig setzen und darauf warten, dass man seine Hungerkunst bewundert. Genau darin liegt aber die über das Literarische der Literatur hinausgehende Kraft der vorliegenden Sammlung, nämlich in der Entscheidung zur Flucht und darin zur Begegnung mit dem (bzw. den) Unnötigen. Als Führer wählt sich der Autor in einem der Reisegedichte konsequenterweise einen Teiresias mit Blindenstock, dem er durch die Vorstädte Mexico-Stadts folgt, vorbei an Elend, Gosse und Schmutz: „Nie sah ich ihn/ was er sah/ mit Prügel kompensieren“.

Bei aller dem beinahe systematischen Blick auf das Verstoßene und Abgetriebene geschuldeten „Negativität“ haben diese Gedichte und Geschichten erstaunlicherweise nichts Klagendes. Dem Leser schlagen vielmehr Wärme und Humor entgegen und ein ausgeprägter Sinn für die Schönheit des Kargen: „Endlich/ leben/ ohne vorgehaltene/ Hand/ gähnend/ aufs/ offene Meer“. Mitunter nimmt diese schlichte Schönheit die Form eines Haiku an: „Aber dort/ die efeuumrankte/ Friedhofsmauer/ brummt/ vor Behagen!“ Am schönsten sind die schnellen Wechsel, die zeigen, wie beweglich doch alles ist: Im Straßengraben nach dem Unfall eines Einsatzwagens „ruht/ zwischen Eiswürfeln/ ein Herz:/ Der Alte/ für den es/ bestimmt war/ wird seine ganze Kraft/ zusammennehmen/ und jetzt/ an seinem eigenen/ sterben müssen“.

Schussblumen
von Andreas Degen

Nicht „Anschwellender Bocksgesang“, sondern „rinforzando“ heißt der Debütband René Steiningers, was „plötzlich stärker werdend“ bedeutet. Das der Musik entlehnte Stichwort bezeichnet die Eigenart der Gedichte und wenigen Prosastücke, die der österreichische Bucher Verlag Hohenems eben herausgebracht hat, durchaus treffend. Steiningers Texte sind Zuspitzungen. Sie streben auf eine Pointe, eine Wendung zu, die häufig eine Wendung im Sprachlichen ist: ein Wortspiel, ein Paradox, ein semantischer Januskopf. Der genau kalkulierende Zungenschlag des Aphoristikers gibt den Texten Verve und stellt die Beobachtungen als Denkübung auf. Was beobachtet wird sind Alltäglichkeiten, auch dort, wo Ortsangaben Halbexotisches erwarten lassen. Der Autor gibt sich als Tourist zu erkennen, unterwegs in erogenen Zonen, ein verlustempfindlicher Verbraucher von Landschaft und Liebe. Einer, der die Lust kennt und ihren Preis. Er skizziert, mit wenigen Worten, Augenblicke des Glücks, die umso heller leuchten, je lichtloser ihr Untergrund ist: ein nächtliches Zugfenster, das ein fremdes Gesicht nahe bringt; eine intime Bewegung beim Geschäft mit der Liebe; Straßenkinder, die im Autoabgas Wärme suchen. Steininger schreibt keine Idyllen, sondern Milieustudien über eine grausame Welt, der nicht anders als für Momente zu entkommen ist. Brutal ist normal, aber nicht alles. Die Texte klagen nicht an und klären nicht auf, sie halten nur dagegen: wie der Gastarbeiter Mustafa, der Töchter statt Söhne wollte, oder der Wind im Fell der Straßenhunde von Bukarest. Schönheit bemisst sich – zweifellos eine der gelungensten Metaphern des Bandes – an „den / Schritten / einer Eidechse / die der / versteinerten Erde / wie Gänsehaut / über den Rücken / läuft“. Das Schöne im Grauen zu beschreiben, ohne obszön oder kitschig zu werden, ist eine Gratwanderung, die dem Autor meist gelingt: „Nah an den Fakten, doch stets in Rücksicht auf das Verletzliche“. Auf all die anderen Selbstauskünfte, mit denen der Band sich absichern zu müssen meinte, hätte man gut verzichten können.

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